Hallo,
der Punkt ist doch der, dass wir beim Thema Retro von einem völlig anderen Risiko reden, und man kann die beiden Sportarten diesbezüglich nicht in einen Topf werfen.
Wenn man es mathematisch fassen will sieht man als Risiko normalerweise die mögliche Schadenshöhe mal der Eintrittswahrscheinlichkeit. Klar ist die mögliche Schadenshöhe (nämlich Personenschaden) die gleiche wie bei der Bestzeit, aber die Eintrittswahrscheinlichkeit ist eben um Größenordnungen geringer.
Mir ist bewusst, dass man die Welt nicht auf Formeln reduzieren kann, aber es trifft hier den Kern der Sache und zeigt die Verhältnismäßigkeit auf. Wenn Leute noch weitere Streben einbauen wollen dann mag das, vielleicht, bei der Bestzeit berechtigt sein, aber bei einem Auto das auf Sollzeit bewegt wird ist es völlig unverhältnismäßig (Anmerkung: ich glaube bei der Nascar haben sie durchaus noch stärker dimensionierte Käfige für die 250km/h Einschläge in Betonmauern, warum nimmt der Kollege nicht die? Und dann noch eine Strebe mehr geht doch immer!). Klar kommt man damit einer „Vision Zero“ näher, aber meiner Einschätzung nach wäre das dann der einzige Lebensbereich in dem „die Überlegung ob etwas bringt“ unerheblich wäre. In jedem anderen Lebensbereich geht es darum mit akzeptablem Einsatz von Mitteln ein adäquates Ergebnis zu erzielen. Auch die „Analogie zum Straßenverkehr“ ist mir nicht einsichtig, denn da ist es ja doch so, dass mit der Verpflichtung jedes straßenzugelassene Auto mit ESP und mindestens 10 Airbags nachzurüsten man der „Vision zero“ sehr viel näher kommen könnte. Ebenso mit einem generellen Tempolimit auf 80km/h auf allen Außerortsstraßen, denn dann werden praktisch alle Überholmanöver, inklusive derer auf Autobahnen, überflüssig und man hat eben nicht mehr das Risiko mit ordentlich Tempodifferenz unter einem LKW zu verschwinden. Trotzdem tut man es nicht, ich vermute aus eben diesen oben genannten Gründen.
Generell wundere ich mich schon darüber, dass in diesem Thread so viele Leute der Meinung sind, dass ein aus meiner Sicht absolut maximaler Regulierungswahn anstrebenswert ist und die Eigenverantwortung möglichst minimiert werden soll. In der Politik ist das eher ein Markenzeichen von Ideologien die ich eben im Kreis der Motorsportler nicht erwartet hatte in diesem Maße anzutreffen.
Eine andere Tatsache die man berücksichtigen sollte ist natürlich, dass wir hier über alte Autos reden, die bei vielen Versicherungen und nach 30-jähriger Laufzeit ja sogar, sogar, vom Finanzamt als offiziell alt und damit als Kulturgut anerkannt werden. Hier sollte man Änderungen wirklich auf das Mindestmaß begrenzen.
Noch wichtiger als der Insassenschutz erscheint mir allerdings das Thema Zuschauerschutz. Hier sind die Retros ja glücklicherweise genauso gut wie die Bestzeit-Fahrer. Das steht im scharfen Gegensatz zu einer wachsenden Zahl an Gleichmäßigkeitsrallyes die im öffentlichen Straßenverkehr abgehalten werden. Hier ist es durchaus schon vorgekommen, dass eine in zeitliche Bedrängnis geratene Mannschaft es doch noch sehr schnell zur nächsten Sollzeit-Lichtschranke schaffen wollte. Ich will hier keine Szenarien ausmalen, einfach weil ich der Mannschaft zutraue sich akzeptabel zu verhalten. Und auch weil ich mich freue, wie eine große Anzahl von nicht-motosportaffinen Menschen diese meistens sehr gern gesehenen und in vielen Städten hochwillkommenen touristischen / Gleichmäßigkeitsfahrten mit dem Titel „Rallye“ assoziieren. Vielleicht sind die dann ja auch mal aufgeschlossener wenn man nächstes mal ein paar Kilometer Feldweg für eine Rallye absperren will. Aber man könnte sich natürlich vorstellen was bei einer solchen Gleichmäßigkeitsfahrt im Straßenverkehr alles passieren könnte, und was man zumindest für die Autoinsassen mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen verhindern könnte. Sollte hier vielleicht mal jemand aktiv werden? Oder eher doch nicht ? Jeder mag seinen Teil denken.
Ich will nicht (zumindest inzwischen nicht mehr, habs vor einigen Jahren aufgegeben) beurteilen was für eine Bestzeit-Rallye sinnvoll oder notwendig ist, aber ich zitiere einfach mal einen Beitrag aus dem Gruppe-H Thread über den ich heute zufällig gestolpert bin.
„Genau deshalb habe ich den ganzen Kram vor 1-2 Jahren verkauft. Mir ging der ganze Schwachsinn auf die Nerven.
1. Der ganze Helm - Hans Gedönns
2. Käfig Zusatzstreben Bla Bla Blahhhh...... Deswegen haben sich Fahrer neue Karossen aufbauen müssen weil der vorhandene Käfig/Zelle nicht den Sicherheitsvorschriften entsprechen.
3. Jetzt das Gr. H " verbot" oder wie immer das jetzt aus geht.“
Ich will das nicht kommentieren, und auch keineswegs die Situation vergleichen, es geht mir nur darum in Erinnerung zu rufen, dass in allen Bereichen sich Leute fragen, was ist eigentlich wirklich sinnvoll und verhältnismäßig ist.
Ich für mich habe mich entschieden und ich hoffe ich habe nachvollziehbare Argumente dafür dargestellt. Hoffentlich muss ich mich nicht bald zwischen den Gleichmäßgkeitsrallyes auf öffentlichen Straßen und den Retro-Rallyes entscheiden, aber wenn beide nur noch gleich viel Spaß machen sähe ich keinen Grund mehr die Kosten für die Straßensperrungen und Streckenposten bei einer Retro Rallye mitzufinanzieren.
Zum Abschluss noch eine Anmerkung zum sportlichen Wert einer Retro Rallye nach aktuellem Reglement. Für mich ist es die perfekte Verbindung von sportlichem Autofahren auf abgesperrter Strecke ohne Zeitdruck, und damit mit der voll charakterbildenden Gewissheit vor jeder zweifelhaften Stelle einfach zur Sicherheit noch zwei Extra-Bremseinheiten einzulegen, mit der Herausforderung mit dem nicht sichtbaren vordersten Teil des Autos eine Lichtschranke auf die Zehntel oder inzwischen oft Hundertstel Sekunde genau zu durchqueren.
Klar gibt’s bei den großen Gleichmäßigkeitsrallyes, die hauptsächlich im Straßenverkehr stattfinden, manchmal 100 statt wie bei uns 6 Lichtschranken. Aber ich kann sicher sagen, dass ein Anlauf von 50-100 Metern (denn soweit ist das gelbe Schild ja meist vom Ziel entfernt) auf die Lichtschranke wie bei der Retro oder ein Anlauf von 10 oder von 1000 Metern auf die Lichtschranke bei dieser Sache überhaupt keinen Unterschied macht. Es ist gleich schwierig und interessant!
Den Sportsgeist der Teilnehmer kann man leicht sehen und hören wenn mach sich im Ziel mit ihnen unterhält, oder wenn man sieht wie nach dem Aushang der Zeiten der Sollabweichungen über jede gute oder schlechte Zeit kommentiert wird, alternative Szenarien berechnet werden (Mensch, wenn wir bei der WP4 nicht die 0,5 Sekunden kassiert hätten…..), denn dann sieht man: dieser Teil ist wie bei einer ganz normalen Rallye. Er ist genauso erhaltenswert wie die anderen Teile dieser faszinierenden Sportart.